Im Nirgendwo

 

Traurig wanderte sie durch das Land Nirgendwo. Lange Zeit begegnete sie Niemandem und sie fühlte sich unendlich allein gelassen. Doch eines Tages begegnete ihr das Nein. Sie verstanden sich auf Anhieb und sie entdeckten, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg.

Nach einigen Tagen trafen sie völlig unerwartet auf das Ja. Im Gegensatz zu dem dunkel gekleideten Nein und den grauen, verschlissenen Kleidern des Mädchens, leuchtete das Ja in einem bunt schillerndem Kleid.

„Darf ich Euch begleiten“, fragte das Ja freundlich.

Fast gleichzeitig antworteten Beide „Nein, wir wollen alleine sein. Wir brauchen keine Gesellschaft.“

 

Während sie ihren Weg fortsetzten, folgte ihnen das Ja mit einigem Abstand unbemerkt und still. Sie wanderten durch dunkle Höhlen, über schroffe Gebirge und kämpften sich durch Dornengestrüpp. Es war eine ziemlich anstrengende Angelegenheit. Allmählich hatte das Mädchen kaum noch Kraft und es war unendlich müde, doch wurde es von dem Nein immer wieder angetrieben weiter zu gehen.

 

Plötzlich standen sie auf einer Lichtung. Dort gab es weiches, grünes Moos in Hülle und Fülle unter mächtigen, alten Bäumen. Sofort setzte sich das Mädchen unter einen dieser Bäume.

Ärgerlich sagte das Nein „Komm, wir müssen weiter. Hier gefällt es mir nicht.“ „Lass uns ein wenig ausruhen, ich bin völlig erschöpft,“ antwortete das Mädchen matt.„Ich kann nicht mehr.“ „Wenn es unbedingt sein muss. Ich werde inzwischen die Gegend erkunden, damit wir wieder auf den richtigen Weg kommen,“ nörgelte das Nein.

 

Kaum war das Nein außer Sichtweite, sprangen aus dem Baum  lauter bunte Gestalten. „Hallo, wir haben schon auf Dich gewartet. Darf ich mich vorstellen, ich bin das Aber.“ Nacheinander stellten sich Alle vor. Da gab es das Doch, das Vielleicht, das Eventuell, das Möglicherweise, das Fragezeichen und die Antwort. Höflich fragte das Vielleicht „Du siehst schlecht aus, können wir etwas für Dich tun?“ „Ach, ich habe so schrecklichen Durst und bisher haben wir nirgendwo Wasser gefunden.“

„Da gibt es nur eine Möglichkeit. Siehst du die Schlucht dort mit der schmalen, gläsernen Brücke? Dort musst du hinüber. Auf der anderen Seite, am Ende der Brücke wartet die Libelle der Hoffnung. Sie wird dich zum Brunnen der Wahrheit fliegen. Dort kannst du trinken, denn es ist die einzige Wasserquelle hier.“

 

Das Mädchen trat an den Rand der Schlucht und betrachtete die gläserne Brücke. Es war ein zierliches, filigranes Gebilde welches im Wind hin und her schwankte.„Wie soll ich es schaffen dort hinüber zu kommen?“

„Es wird eventuell schwierig werden und möglicherweise sogar gefährlich, aber es ist möglich,“ sagte die Antwort während die Anderen zustimmend nickten.„Nein, gehe nicht dort hinüber, wir müssen weiter,“ rief plötzlich laut das Nein, welches gerade eben von seinem Erkundungsgang zurückgekehrt war. Plötzlich trat das Ja hinter einem Baum hervor.

„Du musst es nur wollen dann ist es ganz leicht. Versuche es.“

 

Das Mädchen sah unsicher in die Runde. Es hatte unendlich quälenden Durst. Von der einen Seite hörte es immer wieder das Nein rufen „Nein, gehe nicht. Du musst bei mir bleiben.“ Während ihr von der anderen Seite  mit vielen Stimmen immer lauter zugerufen wurde. „Ja, es geht. Doch du wirst es schaffen, du musst es versuchen.“

 

Da der Durst kaum noch zu ertragen war sagte das Mädchen „Ich muss es versuchen, da ich sonst verdursten werde. Ich habe keine andere Wahl.“

„Nein, nein, nein!“ kreischte schrill das Nein. Doch entschlossen setzte das Mädchen den ersten Fuß auf die Brücke. Es fühlte sich sehr unsicher und hatte Angst. Behutsam setzte es einen Fuß vor den Anderen, den Blick fest auf den schmalen Steg der Brücke gerichtet. Nur nicht hinunter sehen, hämmerte es in ihrem Kopf. Fast hatte es die Mitte der Brücke erreicht, als ein enormer Windstoß sie beinahe abstürzen ließ, so sehr schwankte es nun. Während sie völlig verzweifelt das dünne Geländer umklammerte war ein helles Knacken und Knistern zu hören. Die Brücke war auf der ganzen Länge von feinen Rissen durchzogen. „Hiiiiilfeeee! Die Brücke stürzt ein“, schrie es entsetzt. Vom Rande der Schlucht riefen die Anderen ihr laut zu.  „Du musst dich konzentrieren und es ganz fest wollen, dann schaffst du es hinüber zu kommen. Du darfst keine anderen Gedanken zulassen. Denke nur daran.“

 

Inzwischen war das Nein etwas in den Hintergrund getreten und von den Anderen, bisher unbemerkt, begann es, sich zu verändern. Es wurde ein wenig durchsichtig und seine Stimme war merklich leiser geworden.

 

Das Mädchen aktivierte die letzten Kraftreserven und setzte weiter einen Fuß vor den Anderen, dabei wiederholte sie ständig die Worte. „Ich will, ich kann, ich muss es schaffen.“ Endlich gelangte das Mädchen an das Ende der Brücke. Total erschöpft ließ es sich auf den Rücken der Libelle fallen. Sofort hob die Libelle mit leise sirrenden Flügeln ab. Sie flogen über den Wald, über ein bizarres Gebirge und plötzlich lag unter ihnen ein riesiger See, in dessen Mitte sich eine winzige Insel befand. Dort landeten sie direkt neben dem Brunnen der Wahrheit. Gierig trank das Mädchen von dem quellklaren Wasser und es spürte unmittelbar wie die Kraft zurückkehrte und sich eine wohltuende Ruhe ausbreitete in ihr. „Danke, du hast mir in letzter Sekunde das Leben gerettet,“ sagte sie nachdenklich zur Libelle. Zu ihrem Erstaunen antwortete die Libelle, „Deine Reise ist noch nicht ganz zu Ende. Schau, dort ist das Boot der Freude. Es wird dich zurückbringen zur Insel des Lebens, wo man sehnsüchtig auf dich wartet.“

Lächelnd stieg das Mädchen in das Boot, winkte ein letztes Mal der Libelle zu, mit dem Gefühl nun auf dem richtigen Weg zu sein.

Inzwischen hatten all die Anderen erfahren, dass das Mädchen sicher auf der anderen Seite angekommen war und aus dem Brunnen getrunken hatte. Mit einem Lächeln auf ihren Gesichtern sahen sie sich nach dem Nein um, doch das Nein war im Nirgendwo verschwunden.

© Brigitte Burg

     
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             
             

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